Rote Hütten, jede Menge Zimtschnecken und ein See voller Erinnerungen
Wasser. Soweit das Auge reicht. Der Mond spiegelt sich auf den ruhigen Wellen der Ostsee zwischen Dänemark und Schweden. Dies war der Moment, in dem wir gemerkt haben, wie weit entfernt wir uns schon von zuhause befinden, wie viel Wasser eigentlich zwischen dem Gewohnten und dem Unbekannten liegt.
Die Meisten werden nicht viel von der Strecke nach Schweden mitbekommen haben, außer den zwei Fahrten mit der Fähre, da wir währenddessen den Reisebus verlassen mussten. Am Abend zuvor versammelten sich 50 Teilnehmende, 10 Teamer und viele Eltern mit Notebooks und Handys in der Hand auf dem Parkplatz des MSM-Gymnasiums, um das mitreißende Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft mitzuverfolgen.
Und vielleicht auch, um die zweiwöchige Fahrt nach Schweden zu beginnen. Nach einem stärkenden Reisesegen mit Pfarrerin Siebenkotten und musikalischer Untermalung durch Frau Tebbe-Taenzler begann für uns die 15-stündige Busfahrt gen Norden.
Als sich im frühen Morgenlicht schemenhaft weitläufige Tannenwälder und schroffe Felsstrukturen abzeichneten, waren wir nur noch wenige Stunden von unserem Ziel, dem Roten Holzhaus am See nahe des kleinen Dorfes Fristad, entfernt. Die letzten Stunden über kurvenreiche Landstraßen durch ländlich geprägte Regionen vergingen wie im Flug. Zwei Teamer waren bereits einen Tag zuvor mit dem randvoll beladenen Gemeindebus der Emmaus-Gemeinde Willich vorrausgefahren, um Material und haltbare Vorräte nach Schweden zu bringen, und so wurden wir bereits von bekannten Gesichtern auf dem Hof unserer Unterkunft willkommen geheißen.
Das „Haus am See“ war viel mehr eine riesige Ferienanlage bestehend aus einem Haupthaus, in dem sich Speisesaal, Küche und einige Schlafzimmer befanden, sowie ringsherum einem Schlafhaus, einem Leiterhaus, drei kleinen Holzhütten mit jeweils fünf Betten und einer großen ausgebauten Scheune. Begeistert wurde das weitläufige Gelände von den gerade angekommenen Teilnehmenden erkundet, welches durch viele Möglichkeiten, Sport zu treiben, ergänzt wurde. Schnell fanden alle Mitfahrenden ein Zuhause auf Zeit in einem der einfachen, aber dennoch geborgenen und urtümlichen Zimmer. Insbesondere die Nähe zur Natur und die Möglichkeit, ein Elch könnte gleich durch das Fenster schauen, machten die kleineren Hütten rund um das Haupthaus zu typisch skandinavischen Unterkünften. Das strahlende Sonnenwetter aus der Toskana noch gewohnt, blickten wir bei unserer Ankunft, nach der Sonne suchend, auf eine dichte Wolkendecke, die einen großen Teil der Zeit anhalten sollte. Klischeehafter schwedischer Sommernachtstraum? Fehlanzeige. Das wechselhafte Wetter sorgte dafür, dass unsere abendlichen Teamerbesprechungen immer mit einem Blick auf mehrere Wetterapps begannen und in zahlreichen Umplanungen der Aktivitäten resultierten. So ergab sich dennoch ein bemerkenswert vielseitiges Programm, das die sommerlicheren Tage bestmöglich ausnutzte und so zahlreiche Stunden im und am malerischen See nicht weit des Hauses ermöglichte. Das schwarz schimmernde Wasser des von tannengrünen Wäldern gesäumten Sees und seine unergründliche Tiefe verlieh dem Schwimmen dort eine Atmosphäre, wie man sie wahrscheinlich so schnell nirgendwo anders vorfinden wird, auch wenn die 18 Grad Wassertemperatur etwas gewöhnungsbedürftig waren. Ein schwedischer See ist einfach eine einzigartige Erfahrung.
Unsere gemeinsame Zeit wurde geprägt durch abwechslungsreiche Aktivitäten, Workshops, Shows, und auch Diensten in der Küche des Hauses. So hatten in den ersten Tagen alle Teilnehmenden die Gelegenheit, sich gegenseitig besser bei Teambuilding-Spielen kennenzulernen und auf diese Weise eine Gemeinschaft für die kommenden zwei Wochen zu formen. Workshops wie das Gestalten von Kerzen, Leinwänden mit Modelliergips oder T-Shirts mit Batiktechniken ließen die Teilnehmenden einerseits kreativ werden, während sie sich andererseits bei sportlichen Aktivitäten auf und rund um die Ferienanlage austoben konnten. Große Geländespiele wie Stratego und Alaska Baseball wurden von vielen Teilnehmenden mit Begeisterung angenommen, andere bevorzugten stattdessen lieber ruhigere Gespräche mit Talker-Karten oder bei einer Runde Werwolf. Mit Erfahrungen und Verbesserungen aus dem letzten Jahr schlüpften die zehn Teamer dieser Jugendfreizeit erneut schauspielerisch in die Rollen der Verdächtigen eines Mordfalls und die Teilnehmenden versuchten in Kleingruppen durch Verhörgespräche quer über das Gelände verteilt den Tathergang zu rekonstruieren. Die Abende verbrachten wir oft mit eigenen Quiz- oder Teamshows, mit einer Fotochallenge, bei der es besondere Fotoaufgaben zu lösen galt, oder mit einer Nachtwanderung über die moosbewachsenen Wege der verwunschenen schwedischen Nadelwälder rings um unsere Ferienanlage. Erst skeptisch und etwas ängstlich über die düsteren Pfade durch den Wald tastend wurde die Begeisterung der Jugendlichen mit jedem Schritt größer, bis wir alle mit leuchtenden Augen vor dem spiegelglatten See standen und ehrfürchtig der Stille lauschten.
Als nach einer kurzen Zeit (zumindest gefühlt kurz, es war wohl gut die Hälfte der Jugendfreizeit) der Ausflugstag anstand, wurde uns allen klar, wie schnell die Zeit eigentlich vergangen war. Auf dem Weg nach Göteborg hatten wir das Vergnügen, den Lokalpatriotismus unserer schwedischen Busbegleiterin zu genießen, da die im Vorraus besprochene „kurze Stadtrundfahrt“ etwas ausgedehnt wurde. So hatten die Teilnehmenden entweder die Möglichkeit, die Sehenswürdigkeiten Göteborgs und den Hafen der Stadt im Vorbeifahren kennenzulernen oder den teilweise etwas kürzeren Nächten entgegenzuwirken. In der darauffolgenden frei verfügbaren Zeit konnte dann die Altstadt Göteborgs mit ihrer nordischen Architektur erkundet werden oder abwechslungsreiche Kunstläden der Fußgängerzone besucht werden. Andere Kleingruppen nutzten die freien Stunden dagegen für eine ausgiebige Shopping-Tour oder dazu, frische schwedische Kanelbullar, also Zimtschnecken zu probieren. In den Konditoreien Göteborgs schmecken sie wahrhaftig am besten.
Ein zentraler Bestandteil eines jeden Abends war unsere Jugendfreizeit-Andacht. Jeweils ein Teamer hatte zuvor einen kurzen Impuls zu einem bekannten Song vorbereitet. Ausgehend vom Text dieses Liedes wurde bei warmer, ruhiger Lichtstimmung gemeinsam über Themen wie Freundschaft, Glaube, Familie und Zuhause nachgedacht und geredet. Es bestand jeden Abend die Möglichkeit, persönlichen Dank, Sorgen, Wünsche und Bitten durch das Anzünden von Schwimmkerzen in kleinen Wasserschalen still oder sprechend zu äußern, sowie losgelöst vom trubeligen Alltag tief durchzuatmen und die Ruhe etwas zu genießen. Abschließend wurde in jeder Andacht unser diesjähriger Freizeitsong „Die guten Zeiten“ von Wincent Weiss und Johannes Oerding gesungen, der der gesamten Fahrt einen gewissen Rahmen verlieh.
Eine besonders emotionale Stunde bot die Andacht am vorletzten Abend, bei der man sich ganz alleine an verschiedenen Stationen mit sich selbst und seinen Wünschen, Ängsten und Bitten beschäftigen konnte. Die Atmosphäre an diesem Abend lässt sich schwer in Worte fassen, sie war schlichtweg berührend, tiefgreifend und persönlich. So entließen wir die Teilnehmenden mit vielen Fragen und bestimmt auch Antworten über sich selbst in die vorletzte Nacht. Am letzten Abend ließen wir die unvergesslichen zwei Wochen feiernd ausklingen. Ein gebührender Abschluss in der ausgebauten Scheune voller strahlender Gesichter über die unvergesslichen Momente und neu geschlossenen Freundschaften.
Beim Verlassen der früheren Scheune fröstelt es mich leicht. Vielleicht war das Hawaiihemd doch etwas überambitioniert, was den Wunsch nach lauen Sommerabenden angeht. Die Feuchtigkeit des langanhaltenden Regens des Vortages steht immer noch in der Luft. Das hohe Gras rund um die uralte Esche neben dem Haupthaus wiegt friedlich im Wind. Mein Blick schweift weiter, vorbei an dem hell strahlenden Mond und dem Fahnenmast, an dem die schwedische Flagge im sanften Abendwind leicht hin und her schwebt, während aus dem Hintergrund das glückliche Lachen der Teilnehmenden herüberschallt.
Eine Kröte hüpft schweigsam über die Veranda vor unserer Spülküche, bis sie neben einer Schnecke zu Halt kommt. Dort verweilt sie mehrere Minuten, bis sie, von einigen Jugendlichen aufgeschreckt, wieder verschwindet. Am vorigen Abend hatte sie auch schon dort gesessen. Als hätte sie die Gesellschaft dieses fremden Geschöpfes genossen. Begegnungen, wie sie in Deutschland, zuhause, vielleicht nicht möglich gewesen wären.
Ein Sommernachtstraum in Schweden.
Die leisen Wellen des dunklen Sees hinter dem kleinen Birkenhain erzählen von Euphorie und Glückseligkeit.